Gerade hast du deine Befehle gesprochen, da hallt eine wütende Stimme durch den Saal: „Dscheridan, Sohn des Yussufs, Nachfahre der Chalibahs und nicht zuletzt Enkel und Chatra der Yasmabith, mit dem die große Mutter selbst mich wohl auf die Probe stellen will, wo bist du?“
Die ungewöhnlich lange Anrede und auch der Tonfall deiner Großmutter lassen dich erkennen, dass sie sich in großer Aufregung befindet. Und schon rauscht sie in den Saal. Ohne die Wesira eines Grußes zu würdigen baut sie sich vor dir auf: „Hast du mir vielleicht irgendetwas zu sagen, du unglückseeliger Tagedieb? Was ist das für eine Geschichte von einer Entführung?“ Du ärgerst dich sehr, dass sie dich vor deinem hohen Gast herabkanzelt wie ein ungehorsames Kind, aber ein Blick in die Augen deiner Großmutter verrät dir, dass sie wohl noch nie in ihrem Leben so wütend auf dich war wie jetzt. „Deine Erklärung?“ zischt sie mit einem Seitenblick auf die Domna, die euch nur verständnislos anschaut. „Und fasse dich kurz, uns bleibt nicht viel Zeit.“
„Großmutter höre! Und möge Satuaria höchstselbst mich mit dem schlimmsten aller Flüche strafen, wenn ich die Unwahrheit sage, aber dieses Mal trifft mich keine Schuld!“ beginne ich meine Rede und schaue sie mit einer Ernsthaftigkeit an, wie ich es sonst selten tue.
„Phexens Hand und der Erdenmutter Wille ließen mich gestern Abend hören, dass eine Entführung auf die Person der Wesira von Rashdul geplant war. Da ich als Gemeiner gekleidet kein Gehör fand nahm ich das Schicksal kurzerhand selbst in die Hand und eilte der Wesira zur Hilfe. Um sie vor dem liederlichen Pack zu schützen musste ich sie hier in den Palast bringen. Ich wollte die ganze Sache ja aufklären, doch nun stellt sich heraus, dass es sich bei der Person mitnichten um die Wesira von Rashdul handelt, sondern dass diese holde Dame hier Domna Larissia aus … Vinsalt … ist.“ Ich hole einmal tief Luft: „Großmutter, etwas ganz schreckliches geht hier vor. Irgendjemand hat die Domna mit einem Artefakt ihrer Erinnerung beraubt und sie glauben zu lassen, sie sei die Wesira von Rashdul. Wir müssen ihr helfen. Vielleicht …“ und an Domna Larissia gewandt fahre ich fort „Hochwohlgeborene Dame, wo befindet sich das schändliche Artefakt jetzt?“
Falls meine Großmutter mich lässt würde ich ihr als nächstes das Artefakt zeigen wollen. Meine Körpersprache und mein jetzt wirklich besorgtes Gesicht sowie der ernsthafte Tonfall meiner Stimme können sie hoffentlich überzeugen, dass ich diesmal kein keckes Spiel treibe.
Die Wesira die eurem auf Tulamidya geführten Gespräch bisher verständnislos gefolgt ist, greift darauf in die Falten ihres Gewandes und knotet aus einem Tuch das Diadem. Wortlos reicht sie es dir hinüber, darauf bedacht, es nicht mit der bloßen Haut zu berühren. Deine Großmutter legt die Stirn in Falten, als die das Schmuckstück beäugt. „Ein mächtiges Artefakt“, murmelt sie schließlich, „und gefertigt von Meisterhand…“ Einen Moment schließt sie die Augen, dann scheint sie einen Entschluss gefasst zu haben.
„Höre Dsche, und höre gut, die Lage ist sehr ernst. Soeben habe ich aus dem Palast der Maharani Wort erhalten. Der Bote war ein Diener, der mir zugetan ist, und kam um mich vorzuwarnen, dass du in einem Entführungsfall vor den Kadi geladen werden sollst. Wenn es sich tatsächlich so verhält, wie du vermutet, dass noch größere Mächte dahinter stecken, wird eine solche Verhandlung mehrere Wochen in Anspruch nehmen, und der Ausgang ist bei weitem nicht abzusehen. In der Zeit schwebt die Dame in Gefahr, und auch wenn deine Unschuld letztendlich erwiesen würde, wäre es ein nervenaufreibendes Unterfangen.
„Ich halte es für das beste wenn ihr zwei euch für eine Zeit in Phexens Gewand hüllt und die Stadt verlasst“, teilt sie abschließend ihren Entschluss mit. Den Streit mit dem Großwesir zu Rashdul lasst vorerst meine Sorge sein. Er ist ein mächtiger und böser Mann, und sein Einfluss scheint bis hier in die Stadt zu reichen. Aber er soll schon spüren, was es heißt sich mit den Nachfahren Chalibahs anzulegen. Ihr beide solltet die Zeit nutzen, um soviel Licht hinter die Geschehnisse zu bringen, wie möglich. Wenn ihr das Rätsel gelöst habt, kehr zu mir zurück, und die große Mutter wird schon alles zum Guten wenden. Ich denke ich habe dich alles gelehrt, was du wissen musst, um in der Welt zurecht zu kommen. Wer weiß, was du unterwegs, alles finden magst. Die Reise zu deinem inneren Ich beginnt manchmal als beschwerlicher Weg, mein pota. Möge Satuaria über dich wachen. Und bedenkt bei eurer Reise. Die Nachrichten reisen schnell über die Flüsse. Ich halte es für das Beste ihr geht in Richtung Wüste. Am Fuße der Khoram-Berge, nah der Oase El‘ Karram hat eine mächtige Schwester ihren Turm. Sie kann euch vielleicht Auskünfte über dies Artefakt geben.“
Und damit versiegt erst einmal ihr Redefluss. Ein seltsamer Blick liegt in ihren Augen. Liebe? Schmerz? Vielleicht eine Spur Angst? Neid? So recht vermagst du ihren Ausdruck nicht zu deuten.
Auch in dir streiten sicher gerade unterschiedliche Emotionen. Lass hören, auf das dann bald ein neues Kapitel beginne…
Ich schaue meiner Großmutter tief in die Augen. Dieser undeutbare Blick löst in mir eine Lawine von Emotionen aus. Emotionen, die von einer wahnsinnigen Angst dominiert werden. Angst vor der Veränderung, Angst vor dem Tod, Angst vor Verantwortung und nicht zuletzt ein Gefühl, das sich am ehesten mit einer Angst vor dem Erwachsenwerden beschreiben lässt. Ich kann nicht anders als auf sie zuzugehen und fest in den Arm zu nehmen. Obwohl ich sie mittlerweile um Häupter überrage fühle ich mich einen Augenblick wieder wie der kleine Junge, der seiner Großmutter den letzten Nerv zu rauben versuchte. Am liebsten würde ich mich in den Falten ihres Rockes vor der Welt verstecken. Am liebsten würde ich nun irgendjemanden tief mit meinem schönsten Blick schmeicheln und ein „Was du jetzt wirklich brauchst ist ein … ein …“ ja, was denn eigentlich? Was wäre es denn, dass die Situation mit einer Handbewegung in eines meiner leichten Spiele verwandelt?
„Eine köapaliche Raise durch Gebiete großer Trockenheit“, raunt Yasemine.
„Das war unheimlicher als sonst!“, flüstert Yali.
„Zimt ist stark und brennt wie Feuer, hat keine Angst vor Nacht und Wasser“, erwidert Yasemine.
Echos, die jetzt deutlich durch meinen Kopf hallen und wie Gespenster eines anderen Lebens ihren Weg zurück in mein Gedächtnis finden. „Es ist die Macht über die Emotionen“ hallt dann eine weitere Stimme in meinem Kopf. Es ist die meiner Großmutter und ich straffe mich und lasse von ihr ab ehe ich noch zu weinen beginne. Ich hocke mich zum Kater meiner Großmutter der eben jetzt hereinkommt und meine Beine umstreicht. Während ich ihm den Nacken kraule bringe ich ein heiseres „Wie viel Zeit?“ hervor.
Je nachdem wie sehr es uns eilt streife ich im Folgenden die Emotionen von mir ab, denn es gilt jetzt folgende Dinge zu erledigen. Und das möglichst schnell: Ich brauche ein leichtes Gewand, am besten eines der Dienerschaft. Dazu feine Reiterstiefel. Wie gestern Abend. Ein Gewand zum Wechseln kommt in einen Rucksack. Ebenso ein paar leichte Schuhe. Sollte ich selbst noch in meinen Gemächern Habseligkeiten zusammensuchen können, so überfällt mich ein Augenblick der Schwäche und der alten Gewohnheiten. Ich kann mich kaum entscheiden, was hier nicht wichtig wäre. Ein Kopfkissen? Oder mehrere? Nein, zu sperrig. Ein Spiegel? Idiotisch. Einige Gürtel? Auch nicht. So irre ich herum und der Rucksack beginnt sich zu füllen. Neben sinnvollen Dingen wie Feuerstein und Zunder, einer Lampe und einer kleinen Flasche Lampenöl landen diverse Flacons Duftwasser im Rucksack. Einige Tücher sowie Armbänder und Halsketten. Ich veranlasse, dass der Domna ebenfalls ein Rucksack für die Reise gepackt wird und uns zwei der älteren Pferde mit Sattel und Decke bereitgestellt werden. Einige haltbare Lebensmittel und ein Säckel Münzen vervollständigen unsere Ausrüstung. Meinen Waquiff stecke ich in den Gürtel und das Flugbrett schnalle ich mir auf den Rücken.
Fertig gegürtet beschaue ich mich im Spiegel und wische eine Träne weg. Dann setze ich den Rucksack auf (über das Brett). Schwer wiegt er auf meinen Schultern. Diesen Umstand schiebe ich aber zunächst auf die Last, die bildlich auf meinen Schultern lastet.
Den Abschied halten wir kurz. Ich hauche meiner Großmutter einen Kuss auf die Wange und raune ihr zu, dass sie ja gut auf Yali aufpassen solle, denn er sei möglicherweise mit mir gesehen worden.
Der Domna hatte ich noch kurz erklärt, was der Plan sei und dass ich ihr alles weitere auf dem Weg erklären würde.
Je nachdem wann wir aufbrechen (sobald Großmutter uns dazu antreibt) kann ich mir dann aber doch nicht verkneifen noch einen Abstecher zu machen. Davon lasse ich mich auch nicht abbringen. Denn ich kann nicht gehen ohne mich wenigstens kurz von meinem Freund Yali zu verabschieden. Ich werde ihm nicht ganz reinen Wein einschenken, sondern etwas von einer überraschenden Rückreise nach Nasir Malkid schwätzen.
So, und nun sage mir was wirklich geschieht …