Lorian erzählt eine Geschichte

Die Geschichte wurde mir von einem tulamidischen Gaukler erzählt. Wahrscheinlich stammt sie direkt aus dem sagenumwobenen Märchenbuch „Tausend und ein Rausch“. Aber wie so oft … wahrscheinlich enthält sie einen wahren Kern, wer weiß das schon …
Es war einmal vor nun schon tausend Jahren, als unsere geliebte Heimat – also die Heimat der Tulamiden – unter der Herrschaft einer ebenso schönen wie grausamen Kaiserin aus fremden Lande, genannt das Alte oder Bosparaner Land, unsägliche Qualen litt. Tausende unserer Vorväter darbten und starben unter dem Joch der blutrünstigen Frau und litten schwer unter Abgaben und Fronarbeit, die diese in kaum vorstellbarer Unbarmherzigkeit einforderte. Um ihnen die Hoffnung vollends zu nehmen, verbot sie auch den Glauben an all jene Götter, die damals unter unserer Sonne verehrt wurden. Stattdessen gebot sie, den einen anzubeten, den, der die Sonne und das todbringende Gesetz selbst sein sollte, der die Erde verbrannte und die Menschen in den Städten und an den Flüssen unserer Heimat knechtete. Sie sei von seinem göttlichen Blute, so wurde verkündet, und wer daran zu zweifeln wagte, wurde durch die Flammen gerichtet.
Die Menschen wurden missmutig in jenen Tagen. Viele hatten Angst um ihr Leben oder um das der ihren. Sie gehorchten stumm und wagten nicht aufzuschauen, wenn der Blick der fremden Herrscherin sie traf, ja sie warfen sich vor ihr in den Staub, damit ihre Füße die Erde nicht berühren mussten.
Ich will dir nun die Geschichte einiger Menschen erzählen, die in diesen grausamen Zeiten ihren Nacken nicht beugten, die aufrecht und unerschrocken der Fremden den Spiegel vorhielten, die verfolgt und auf grausame Weise gemordet wurden und von denen am Ende nur einer überlebte. Aber nun höre:
Sie nannten sich „Die Djinni“ und stammten aus dem Volk der Fahrenden. Sie waren Gaukler, vielleicht ein Dutzend und sie waren wohl die besten ihrer Zeit, auf jeden Fall aber waren sie die Mutigsten. Denn sie besaßen die Keckheit, ein Stück, das noch heute auf den Brettern der Gauklerbühnen zu sehen ist, aufzuführen, eine hintersinnige Persiflage auf das Leben der ruchlosen Kaiserin. Es zeigte, wie sich an ihrem Hofe die Edelsten um ihre Gunst balgten, wie deren Hofnarretei die des Narren übertraf, wie Menschen voller Hinterlist und Trug sich Freunde und Vertraute nannten. Oh, es war ein prachtvolles Spiel, das Die Djinni zeigten! Angefüllt mit Farben und Musik, mit Akrobatik, wie sie heute kaum noch zu bewundern ist, und mit vollendet gezähmten Tieren. Kunststücke wahrer Künstler, Darstellungen so rahjagefällig und unvergleichlich, so spannen sie ihr Spiel, verwoben mit dem feinen Sinn des Humors und dem bissigen der Satire. Nein, sie nannten das Stück nicht „Die grausame Kaiserin“, sie nannten es „Die schöne Harani“, so dass die Schergen der bosparanischen Dämonin beinahe Jahre brauchten, um zu begreifen, was die Kinder des Djinns da auf den Bühnen präsentierten. Und während dieser Jahre, nie lange an einem Ort weilend, ruhelos die Ströme unserer Heimat hinauf und hinunter wandernd, pflanzente sie Hoffnung in die Herzen der Menschen, Hoffnung auf das Ende von Mühsal und Not, ihrer Unterdrückung und der Sklaverei. Und viele, die einstmals frei und Stolz gewesen, erinnerten sich ihrer Stärke und ihres Mutes, wenn sie den Djinni ihre Aufmerksamkeit schenkten. Gewiss war es erst dies, was die Unterdrücker begreifen ließ, dass diese kleine Gruppe Fahrender gefährlicher sein mochte als eine Hundertschaft waffenstarrender Krieger auf offenem Feld. Sodann verfolgten sie die Djinni, trieben sie von einer Ecke des Landes in die nächste. Kaum gab es einen Platz, sicher genug, um nicht aufgespürt und ermordet zu werden. Aber lange Jahre gelang es ihnen immer wieder, den Häschern zu entkommen. Einmal half ihnen ein mutiger Landsmann, ein anderes Mal erwiesen sie sich als stärker als die, die sie fangen wollten, denn unter ihnen waren auch einige, die es verstanden, gar meisterhaft mit der Waffe ihrer Väter, dem Khunchomer, zu kämpfen. Dann gab es Tage, da half ihnen die Kenntnis verborgener Schlupfwinkel, zu denen schon ihre Vorfahren, geflohen waren, an anderen war es nur das Glück, das ihnen die Götter schenkten. Aber eines Tages – und man weiß bis heute nicht wo – kam ihr Ende. Nur einer entkam dem blutigen Metzeln, Shabob ibn Shabob, Sohn eines Kriegers und nicht vergessend, wer ihn gezeugt. Er überlebte den Tod seiner Gefährten, seiner Frau und seiner Kinder und sprach niemals wieder ein Wort von denen, die er verloren hatte. Die Grausamkeit der fremden Schlächter ließ sich in tausend und einem Tag nicht erzählen, und es käme einer Folter gleich, es zu versuchen. Shabob ibn Shabob hatte nur noch seinen großen Khunchomer, eine gewaltige Waffe, die ihm das Leben geschenkt hatte.
Nein, es ist nicht feige geflohen! Sagt das nicht! Und ich sagte es mit Nachdruck! Aber der tulamidische Geschichtenerzähler fuhr fort:
Aber hört wie er seinen Mut bewies und jene belehrte, die an ihm zweifelten:
Als die nördlichsten Heere sich im jungen Gareth sammelten, um das Joch der Kaiserin, das auch sie auf dem Nacken trugen, abzuschütteln, kamen Krieger aus allen Teilen des Südens, um an ihrer Seite gegen die Dämonin zu kämpfen. So mancher glorreiche Name wird noch heute genannt. Helden, die an der Seite der Götter gegen die dämonische Blutkaiserin rannten. Auch Shabob ibn Shabob war einer der ihren und er focht mit dem Mut und der Kraft der Götter. Immer wieder schallte sein Ruf über das Schlachtfeld, und es gab kaum einen, der beim Anblick, wie er seine Feinde erschlug, gezögert hätte, seinem Beispiel zu folgen. Sicher hätten sie so gesiegt, wenn nicht die unselige Hela Horas – Herrscherin dömonischer Gnaden – ihre Schergen gerufen, die Entsendung und Angst verbreiten, die aus grausamen und dunkeln Sphären herabstießen, um der Kaiserin zu Diensten zu sein.
Doch dann geschah das Wunderbare, von dem viele Lieder singen: Die Vier kamen herbei in goldenen Rüstungen und mit glänzenden Waffen in ihren Händen und dem Mit in die Herzen der Aufständischen zurückbrachten, die vorstürmten und den Sieg erfochten. Es heißt – aber wer kann das nach so langer Zeit noch mit Sicherheit sagen – dass es Shabob ibn Shabob gewesen sei, der an der Seite Pakhizal al-Marfuns an der Spitze derer, die aus dem Süden stammten, vorstürmte und den Speer , der für die Brust des Gefährten geschleudert, mit seinem Körper fing. Niemand weiß genau, welche Taten noch zu berichten wären von Helden, die für den Sieg starben. Aber man weiß, dass der Leichnam des Shabob ibn Shabob von dem Helden, der überlebte, vielleicht nur, weil ein anderer starb, in seine Heimat gebracht und bestattet wurde, wie es einem Helden gebührt.
Glaubt es mir, denn ich habe es gesehen! So sprach er.
Auf den Totenfeldern eines kleinen Dorfes am Mhanadi könnt ihr ihn schauen, den Platz, auf dem ein Held nun in Frieden ruhen mag, denn er hat die Seinen gerächt, wie es einem wahrhaften Tulamiden zur Ehre gereicht!“
Und du, liebe Mirya, wirst für mich dieses Grabmal besuchen, wenn du einst in Khunchom angekommen bist!“

Quelle: Gun-Britt Tödter: Wenn der Zirkus kommt, Schmidt Spiele, 1995

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