Ein neuer Tag beginnt (20)

Noch sichtlich müde kommt Ethel, eingehüllt in ein gestricktes Wolltuch, dass sie um die Schultern geschlungen hat, in die gute Stube. Sie schenkt dir ein verschlafenes Lächeln. „So früh schon auf, Mirya?!“ „Tja, hmm, wie soll ich sagen? Eigentlich war ich gar nicht recht im Bett musst du wissen. Die vergangene Nacht war ein wenig … aufregend.“
„Aufregend?“ bricht es aus Ethel heraus. Herrje, jetzt hast du wahrscheinlich ihre heile, kleine Welt durcheinander geworfen. Auch nachts, wenn der Herr Boron über die Schlafenden wacht, passieren in dieser Welt Dinge. „Nun ja, so aufregend war es dann auch wieder nicht. Beorn – der mir übrigens sehr bei der Kräutersuche geholfen hat – und ich haben ein Lager entdeckt. In dem Waldstück südlich von hier.

„Ein Lager?“
„Ein verlassenes Lager. Vermutlich von irgendwelchen Landstreichern oder vielleicht sogar Wegelagerern.“
„Oh Herr Praios, Banditen hier in der Gegend … ich werde Hane sagen, er soll nachts die Hunde wieder von der Leine lassen. Aber euch ist doch nichts passiert, oder?“
„Nein, keine Angst. Ich hatte doch den großen Beschützer dabei. Nein, im Ernst. Es war ja niemand mehr da und wir sind auch niemandem begegnet. Aber ich würde dennoch vorschlagen, dass Lorian und ich heute vielleicht dort nochmal vorbeischauen und das Lager genauer in Augenschein nehmen. Lorian kennt sich mit derlei Dingen ganz vortrefflich aus. Sollten wir den Wegelagerern begegnen macht der kurzen Prozess mit ihnen … aber eines nach dem anderen, das ganze können wir auch auf den frühen Vormittag verschieben. Ich würde Hanes Mutter gerne noch meine Medizin angedeihen lassen und dann wollen wir ja wohl auch noch frühstücken.“
„Oh, Dara nimmt ihr Frühstück für gewöhnlich erst ein, nachdem alle anderen … du kannst also getrost zuerst mit uns früh …“
„So rum ist es auch recht, Ethel, gar kein Problem.“ beschwichtigst du die schon wieder ein wenig unsicher gewordene Ethel und folgst ihrem Beispiel, Tassen aus dem Schrank zu räumen und auf dem Tisch zu verteilen. Kaum eine halbe Stunde später sitzt die gesamte Familie in der guten Stube versammelt. Der Raum ist voller Stimmgewirr und Trouble. Mit einer Ausnahme: Beorn fehlt.
Du bist beinahe alarmiert, aber dann erklärt dir sein kleiner Bruder Brin, dass Beorn oben auf seinem Lager liegt und nicht wachzubekommen ist. Er habe schon Angst gehabt, Beorn sei vielleicht tot, aber dann habe der begonnen zu schnarchen, so dass seine Befürchtung schnell wieder verschwand. Das beruhigt dich sehr und du kannst dich in Ruhe mit Lorian unterhalten. Wäre ja nicht auszudenken, wenn der halbstarke Bursche jetzt schon wieder auf dumme Gedanken gekommen wäre,  das Lager auf eigene Faust nochmal zu erkunden.
Schnell hast du Lorian die Sachlage geschildert und ihm mit dem nötigen Augenzwinkern zu verstehen gegeben, dass er später detailliertere  Informationen erhalten wird. Mit etwas Glück hast du vorerst Ruhe vor Beorn und ihr könnt das Lager tatsächlich gemütlich allein erkunden. „Einverstanden Mirya, lass uns aufbrechen, sobald sich der Morgendunst gänzlich gelichtet hat. Ich habe Hane gestern Abend versprochen beim Dach zu helfen, so gut ich das eben kann, deshalb möchte ich beizeiten wieder hier sein.“
„Einverstanden, ich habe vorher auch noch eine Kleinigkeit zu erledigen.“
„Mirya, unternimmst du heute etwas mit mir? Ich soll zusammen mit Yolande und Hitta die Schafe auf die Weide treiben.“ vernimmst du da Klein-Dara von rechts.
„Ach Süße, ich fürchte heute Morgen habe ich noch keine Zeit für dich, aber ich halte mir den Nachmittag für dich frei, ja?!“
„Hmm, na gut, einverstanden, aber großes Praios-Ehrenwort, ja?“ Du lächelst kurz in dich hinein, Praios-Ehrenwort, pah. Aber na ja, wenn es die kleine Dara doch so sehr freut …

Nachdem die große Familie das Frühstück beendet hat, machst du dich auf den Weg zur alten Dara. Dein Herz schlägt bis zum Hals, als du das Tablett mit dem Frühstück und dem Tiegel voll Salbe die Treppe hinaufträgst. Komisch, das Ethel dir die Aufgabe so bereitwillig … andererseits ist es vielleicht auch wieder nicht komisch, wenn du es recht überlegst.
Zaghaft klopfst du an die Tür. Das dir noch immer unheimliche, dünne und doch so deutliche „Komm nur herein“ jagt dir einen Schauer über den Rücken. Du sammelst dich und trittst dann ein. „Guten Morgen, liebe …“ versuchst du ein fröhliches Gespräch zu beginnen.
„Ich wüsste nicht, was an diesem Morgen gut sein soll, mein Kind. Es gibt kaum einen guten Morgen.“ So sehr du dir wünscht, dass es das nicht tut, ihr Reden bringt dich sofort total aus dem Konzept. Es ist nicht einmal so sehr ihre Grießgrämigkeit, die kennst du auch von Rauma oder etlichen anderen alten, unzufriedenen Menschen, vielmehr ist es diese düstere Aura, die die alte umgibt und die ihre Fühler nach dir auszustrecken scheinen, wenn sie etwas sagt.
„Stell das Tablett dort ab und lass mal deine Salbe sehen. Was du so zustande gebracht hast in der vergangenen Nacht! Ich bin in freudiger Erwartung.“ Du tust wie dir geheißen und setzt dich vorsichtig zu ihr auf die Bettkante. Allen deinen Mut zusammen nehmend bittest du sie dir ihre Hände zu zeigen, damit du die Salbe auftragen kannst.
„Warum so ängstlich mein Kind? Natürlich. Deshalb bist du doch hergekommen, oder nicht?“ Während du beginnst behutsam die Salbe auf Daras alte Hände aufzutragen, nutzt du den Moment des Schweigens um ihr die Ereignisse der letzten Nacht zu schildern. „Was hältst du davon?“
„Dein Vertrautentier ist nicht die Eule und auch nicht die Katze. Aber die Neugierde deines Charakters lässt dich scheinbar zu Kühnheit neigen, weniger zur Vorsicht. Deine Augen haben dich getäuscht. Was du da letzte Nacht gesehen hast, ist sehr wahrscheinlich ein Troll, mein Kind. Es gibt keine Riesen hier in der Gegend.“ Den letzten Satz spricht sie mit so großer Überzeugung, dass du nicht einmal wissen möchtest, woher sie das weiß.
„Ich weiß von einer Trollfamilie, die ungefähr einen Tagesmarsch südlich von hier gelebt hat. Das ist schon einige Jahre her, deshalb könnte ich nicht mit Gewissheit sagen, dass die Trolle immer noch dort leben, aber vielleicht …“
„… haben die Wegelagerer den Trollen etwas getan und deshalb war der Troll so wütend.“ unterbrichst du Dara.
„Schon möglich. Ich sehe schon wieder die Neugierde und den Tatendrang in deinen Augen blitzen. Warum gehst du nicht heute wieder hin um die Situation ein bisschen besser auszukundschaften? Wenn ein Troll in Wut gerät, bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Ich könnte mir vorstellen, dass von dem Lager nicht viel übrig geblieben ist und kaum mehr jemand lebt. Und wenn doch hat er deine Hilfe mehr als nötig.“ Das alles sagt sie in einem derart analytischen Tonfall, dass es dir schon wieder kalt den Rücken herunter läuft. Ob diese Frau wohl gar keine Empfindungen mehr für irgendetwas hat. Oder liegt dein seltsam, ängstliches Empfinden daran, dass ihr zwar Schwestern im Geiste aber doch so gänzlich verschiedene, ja geradezu gegensätzliche, Menschen seid? Die Seele des Raubvogels scheint ihr auch im hohen Alter nicht abhanden gekommen zu sein.
„Geh jetzt, Mirya. Berichte mir heute Nachmittag, wenn du wieder da bist von deinen Erkundigungen.“
„Jawohl, das werde ich tun, dank dir!“
Als du an der Tür bist ruft dich Dara noch einmal zurück: „Ach Mirya!“
„Ja bitte?“
„Deine Salbe hilft sehr gut, vielen Dank.“
Etwas überrascht stolperst du aus dem Raum. Das war … überraschend.
[Soweit alles nach deiner Zufriedenheit? Bleibt es bei deiner weiteren Planung, wie oben beschrieben, dann geht es im nächsten Teil (sobald er fertig ist) weiter, ansonsten besteht jetzt die Möglichkeit noch einmal zu unterbrechen …]

Veröffentlicht von Meister

Die Mächte des Schicksals.

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