Du hast diese Magie der Empathie bisher nie auf ein Kind angewendet und bist für den Bruchteil einer Sekunde überwältigt von der Fülle und Intensität dessen, was dir vom kleinen Brin entgegen schwappt. Mangels geeigneter Worte die dein Verstand fassen könnte, formen sich Bilder großer dunkler Regenpfützen voller Trauer und Tränen vor deinem inneren Auge, jede getrennt von der anderen durch wunderschöne Blumenbeete – Momente absoluten Glücks, wie sie wohl nur ein Kind empfinden kann.
Dir steigen Tränen in die Augen, die du schnell weg blinzelst, ist doch deine Absicht die Situation zu retten und nicht vor dem kleinen Brin im nächsten Moment in Tränen auszubrechen.
Du atmest tief durch und fokussierst dich auf die wesentlichen Gefühle dieser Sekunde: Da ist echte Furcht vor einer Bedrohung, aber auch das Gefühl von Verwirrung und dem Wunsch von etwas Gutem nicht enttäuscht sein zu müssen. Das spornt dich an Brin eben dies nicht erleben zu lassen: “Also ich muss ja sagen, ich bin in meinem Leben schon als so manches beschimpft worden – noch nie jedoch als Menschenfresser! Wie kommst du denn nur darauf?” Das kleine Knäuel rutscht noch ein Stück von dir fort und keine Reaktion zeigt sich. „Ich will dir ganz bestimmt nichts tun. Sieh mal. Ich setze mich einfach hier auf Beorns Lager. Meinen Stecken lege ich hier hin. Ich tu dir nichts. Ich warte hier einfach, bis du bereit bist, dir meine Entschuldigung anzuhören… Mir wärs nur lieber, ich könnte dir dabei in die Augen gucken.“
Zu deiner Erleichterung lunzt jetzt Brins kleiner wilder Haarschopf aus der Decke hervor. Trotzig wirft er dir entgegen: “Beorn sagt die alte Dara frisst mich auf, wenn ich nicht aufpasse, weil sie eine Hexe ist. Hexen fressen Kinder. Und Hexen fliegen auf Besen.” Du fühlst wie sein Blick auf deinen Stecken wandert und er noch hinterher setzt: “… oder … Stöckern.”
Während du wieder zu reden beginnst rutscht seine Decke ein Stück von seinen Schultern. Er hält seinen Stoffbären im rechten Arm und mit der linken Hand fest umklammert ein kleines Messer.
[Für das Wirken des Sensibar Emphaticus erhältst du eine spezielle Erfahrung und wirst beim nächsten Mal besser auf die Wirkung des Zaubers gefasst sein.]
Einen ziemlich klugen Bruder, hast du… denke ich bei mir selbst. Laut jedoch sage ich mit einem Lachen: „Da hat dein Bruder sich aber gründlich getäuscht, lieber Brin. Hexen fressen keine kleinen Kinder. Ich kenne zumindest keine, die das tut. Wahrscheinlich meint er auch, Hexen sind alle alt und hässlich und haben Warzen auf der Nase … – nicht alles was man über andere Gruppen zu wissen glaubt, ist auch wahr. Nicht alle Gaukler sind Diebe und nicht alle „Ratten“ übertragen Krankheiten.“ sage ich mit einem Seitblick auf Frettchens Futternapf. Dann fahre ich mit einem Seufzer fort: „Leider sind solche Vorurteile aber in den Köpfen fast aller Menschen. Was meinst du, würde Hane anstellen, wenn man hier auf dem Hof eine Hexe entdeckt?“
Wenn er nicht sofort antwortet, sondern ich den Eindruck habe, er verarbeitet alles reiflich, was ich gesagt habe, schiebe ich nach einer gewissen Pause noch ein „Übrigens, wenn ich wirklich eine böse, kinderfressende Hexe wäre, hätte ich dir inzwischen längst dein Messer weggehext…“ hinterher. Aber nur, wenn er inzwischen etwas entspannter wirkt. Wenn ich das Gefühl hab mein Gedankenbogen hier überfordert sein kindliches Gemüt, muss ich mir sowieso eine andere Strategie zurecht legen.
Tatsächlich scheint es in dem kleinen Köpfchen heftig zu arbeiten, als du deine Worte sprichst. Deine magische Verbindung zu dem kleinen Jungen lassen sein Gesicht vor deinem inneren Auge sehr viel deutlicher erscheinen, als du es im Zwielicht der Stube wirklich erkennen kannst. Unentschlossenheit spiegelt sich in seiner Mine. Es schwappt dir Verstehen entgegen. Aber auch Zweifel. Zweifel eines Menschen der in seinem sehr kurzen Leben schon zu häufig belogen wurde und dem ein leichthin gesagtes “Alles wird gut” vermutlich nichts bedeutet. Da ist aber auch diese Wärme des Vertrauens. Der Widerstreit in Brins Kopf tobt noch immer heftig. Die bleierne Angst in der Luft versiegt hingegen merklich.
Als du dann deinen Kommentar zu seinem Messer in der Absicht einwirfst, die Situation durch diese Absurdität weiter zu entspannen, zuckt er erschrocken und hält danach sein Messer noch fester in der Hand, als könne er verhindern, dass du es dir anders überlegst und es doch noch weg hext. Dass du ihn fressen willst, scheint er langsam wirklich nicht mehr zu glauben.
“Vielleicht wartest du bis ich eingeschlafen bin und kochst mich dann” überlegt Brin nun laut, aber du hörst an seiner Tonlage, dass er seinen eigenen Worten nicht recht glaubt.
Ich zwinkere ihm zu: „Oooch, ich mag viel lieber kaltes Essen.. Und überhaupt ist an dir zu wenig dran…“ grinse ich aufmunternd, dann werde ich ernster: „Außerdem wäre es echt schade um ein aufgewecktes Kerlchen wie dich!“ Ich hole noch einmal tief Luft und schaue ihm dann direkt in die Augen: „Ich hab dir ja noch eine Erklärung versprochen… Weißt du, das Wort „Hexe“ mag ich nicht besonders. Aber tatsächlich ist es so: Eine Ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter von mir hatte große Zauberkraft. Und ein ganz wenig davon habe ich geerbt. Nur so viel, dass ich mit meinem Stecken fliegen und manchmal ein bisschen besser heilen kann als Menschen ohne Zauberkraft. Manchmal verstehe ich auch ganz gut die Probleme anderer Leute und Tiere. Das ist es im Wesentlichen. Und selbst wenn ich mehr könnte – niemals würde ich meine Kraft benutzen um einem Kind etwas anzutun, Brin. Sieh mich an und du erkennst, das ich die Wahrheit sage. Ich habe eine besondere Gabe, und möchte sie dafür einsetzen, dass es Menschen besser geht! Glaubst du mir das?
Wenn ich eine einfache bekräftigende Antwort erhalte fahre ich fort. Wenn nicht, kapp meinen Text hier….
„Ich danke dir für dein Vertrauen! Und weil du so vernünftig bist Brin, glaube ich, dass du auch das folgende verstehst: Obwohl ich völlig harmlos bin, habe ich dich mit meiner Zauberei furchtbar erschreckt. Und das ist der Grund, warum ich sie normalerweise geheim halte. Wenn ein Erwachsener so erschrickt, wie du vorhin, zückt er vielleicht nicht ein Messer, sondern eine Sense, und ich kann mich nicht wehren… Es ist wichtig, das keiner erfährt, was ich dir hier gerade erzählt habe und auch nicht, dass du mich fliegen sehen hast, denn nicht jeder hier ist so vernünftig und klug wie du Brin. Wirst du mir helfen, mein Geheimnis zu wahren?
Auf deine erste Frage nickt Brin nach einer kurzen, bangen Zeit des Überlegens eifrig mit dem Kopf, so dass du mit deiner Erklärung fortfährst.
Auf deine zweite Frage zögert er erneut und entgegnet dir: “Wirst du Beorn wieder gesund machen?”
Ich nicke schnell und bekräftigend. Dann werde ich mir der Tragweite der Frage bewusst und formuliere vorsichtig: „Ich wünsche mir auch sehr, dass dein Bruder wieder gesund wird und ich werde tun, was ich kann um ihm dabei zu helfen! Geht es ihm denn noch nicht besser? Ich wollte sowieso gleich nach ihm schauen – wollen wir zusammen gehen?“
Brin nickt diesmal ohne zögern wieder eifrig und seine Angst vor dem Gefressen werden scheint wie weggeblasen. Er lässt den Bären und das Messer nachlässig auf sein Lager fallen, springt auf und ergreift deine Hand.
Auch Brins Gefühlsaura verändert sich von Angst auf hoffnungsvolle Erwartung und beinahe ein bisschen Freude, als er dich hinter sich her zieht. Gerade noch kannst du deinen Stecken ergreifen, ehe ihr die Stiege (nun aber doch wieder hintereinander) hinabsteigt und den Hof überquert.
Noch immer liegt der Hof ruhig und friedlich da. In der guten Stube ist es still. Ihr erreicht das Lager von Beorn und Lorian ohne jemandem zu begegnen. Brin eilt dir voraus und kniet sich zu seinem Bruder ans Bett. Du trittst hinzu und willst ihn gerade ermahnen seinen Bruder schlafen zu lassen, als der mit matter Stimme zu sprechen beginnt: “He kleiner Bruder. Geht es dir gut?”
“Beorn! Oh wie gut dass es dir besser geht!”
“Na was dachtest du denn, Kleiner? Ich bin so gut wie wieder genesen. Na komm her unter die Decke. Ich weiß doch genau, was du dir wünscht” fordert nun Beorn seinen kleinen Bruder auf. Du erkennst an seiner Stimmlage und der belegten Stimme, dass er noch immer Fieber hat und es ihm mitnichten gut geht. Aber Brin bemerkt das nicht, schlüpft ganz beseelt aus deinen Schuhen, kriecht zu seinem Bruder unter die Decke und schmiegt sich an dessen Seite.
Du beobachtest das Geschehen zunächst wortlos, erinnerst du dich doch gerade an Raumas Ausführungen zu der Kraft einer heilen Seele. Daran, wie sie dir erklärte dass Ereignisse und Erinnerungen – schlimmere Erinnerungen – jemanden krank machen können. “Manchmal sind schlimme Erinnerungen gefährlicher als ein wildes Tier.”
Du wirst aus dieser – glücklicherweise guten – Erinnerung gerissen. Vom Bett her kommt ein leises “He Mirya.”
Ich lasse den Sensibar-Zauber fallen, als ich hinter Brin die Stiege hinabsteige. Am Krankenlager angekommen hänge ich meinen eigenen Gedanken nach, bis ich angesprochen werde. Dann wende ich mich Beorn mit einem erleichterten Lächeln zu: „Beorn! Ich bin so froh, dass du wach bist! Ich fing schon an, mir Sorgen um dich zu machen!“ und mit einem kleinen Seitblick zu Brin füge ich hinzu: „Aber ich sehe, dich kriegt so leicht nichts unter!“ Ich knie mich an sein Lager und greife seine Hand. Ich schmiege sie sanft an meine Wange und werfe ihm einen langen Blick zu, in dem ich der Wiedersehensfreude und der Sorge mehr Ausdruck gebe als ich es in Worten gerade möchte. Dann unterbreche ich die Rührseeligkeit mit milder Geschäftigkeit: „Und jetzt lass mal schauen, welche Fortschritte du gemacht hast… einmal husten bitte!“ Ich beginne, eine zugegebenermaßen etwas übertrieben gründliche Untersuchung meines Patienten. Ich will seinen Puls und seine Temperatur fühlen, auf seinen Atem hören, wechsele mit leisem Summen die Wadenwickel, schüttle das Bettzeug auf und bringe ihm frisches Wasser. Dies alles soll hauptsächlich dazu dienen eine Aura ruhiger Betriebssamkeit im Raum zu verbreiten, die Angst und Schrecken verjagt, und die hoffentlich dazu führt, dass der kleine Brin bald einschläft. Erst wenn ich dessen sicher bin lasse ich davon ab und kauere ich mich erneut an Beorns Lager. Außer einem geflüsterten: „Ach, Beorn“ sage ich erstmal gar nichts, und hoffe, dass ihm vielleicht selbst Worte kommen.